Am
beliebtesten unter allen Parabeln war jedoch im 13. Jahrhundert
die Geschichte von den klugen und törichten Jungfrauen.
Wir sehen sie am Westportal der Kathedralen von Amiens, Bourges,
Notre-Dame in Paris, Reims, Sens, Auxerre, Laon; die einen
rechts, die anderen links vom göttlichen Richter. Sie
wohnen dem Jüngsten Gericht bei, in dem sie eine Rolle
zu spielen scheinen. Nach den Theologen sind sie wirklich
die symbolische Verkörperung der Auserwählten
und der Verdammten. Ihre geheimnisvolle und furchtbare
Geschichte ist zugleich die Geschichte des letzten Weltabends.
Hören
wir darüber die Glose ordinaire. Sie lehrt uns
zunächst, was die fünf klugen Jungfrauen darstellen,
und warum es fünf sind, denn in der Schrift ist selbst
eine Zahl niemals zufällig. Es sind ihrer fünf,
weil die klugen Jungfrauen die fünf Formen der inneren
Betrachtung versinnbildlichen; diese fünf Formen
müssen als die fünf Sinne der Seele angesehen
werden. Sie sind also das vollkommene Symbol der christlichen
Seele, die sich zu Gott wendet. Das Öl, das in ihrer
Lampe brennt, ist die höchste Tugend: die Liebe. Die
fünf törichten Jungfrauen stellen die fünf
Formen der fleischlichen Lust vor, die Genüsse
der fünf Sinne, welche die Wirkung haben, daß
die Seele jeden göttlichen Gedanken vergißt und
die Flamme der Liebe in sich verlöschen läßt.
Der Bräutigam, den sie ebenso wie die klugen Jungfrauen
an der Schwelle des hochzeitlichen Hauses erwarten, ist
Jesus Christus.
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Sie
warten lange, so lange, daß sie vom Schlaf überwältigt
werden; auch ihr Schlaf ist symbolisch: er bedeutet
die Erwartung der im Tode entschlafenen Menschengeschlechter,
die nach Iangen Jahrhunderten zu der Stunde, wo Jesus zum
zweiten Male kommt, erwachen werden. "Aber plötzlich",
sagt die Parabel, "ertönt ein Schrei mitten in der
Nacht". Es ist die Stimme des Erzengels, die Trompete
Gottes, die ertönen wird, wenn niemand es erwartet, denn
der Herr wird kommen wie der Dieb in der Nacht". Die
Jungfrauen erwachen endlich und erheben sich, wie sich die
Toten aus Ihren Gräbern erheben werden. Diejenigen, in
deren Lampe die Liebe Gottes brennt, treten mit dem
Bräutigam ein; die anderen müssen draußen
vor der verschlossenen Tür bleiben, und der Bräutigam
sagt zu ihnen: "Wahrlich, ich kenne Euch nicht."
Nun
begreift man, warum die Parabel von den klugen und törichten
Jungfrauen immer mit dem Weltgericht verbunden worden
ist. Ihre Anwesenheit bei diesem schrecklichen Drama bestätigt
den Christen das göttliche Wort; sie erinnert den Gläubigen
daran, daß Jesus Christus selbst alles vorausgesagt
hat und zwar unter der Verhüllung des Symbols.
Das
Mittelalter blieb seinen hierarchischen Gewohnheiten treu,
indem es die klugen Jungfrauen rechts von Christus und die
törichten links anordnete, und indem es den klugen
den Nimbus verlieh, der bei den törichten fortblieb.
Eine Tür öffnet sich vor den Klugen und schließt
sich vor den Törichten.
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